Reinhard Mey
Es bleibt eine Narbe zurück
Wenn du manchmal stumm deinen Gedanken nachhängst
Und mich ansiehst, ohne mich dabei zu seh'n –
Wenn ich vergebens versuch', zu erraten, was du denkst
Welche Fragen hinter deiner Stirne steh'n
Ahn' ich doch, in Gedanken brichst du über mich den Stab
Doch bedenk, wenn du meine Schuld einschätzt:
Von jeder Wunde, die ich dir zugefügt hab'
Bleibt auch mir eine Narbe zuletzt!
Ich hör' oft, was wir sprachen im nachhinein
Wie ein Fremder, wie durch eine offene Tür –
Sollen das meine Worte gewesen sein?
Und ich find' heut' keine Rechtfertigung mehr dafür!
Doch jedes Wort, mit dem ich dir wehgetan hab'
Bereute ich, während ich es sprach, schon
Denn von jeder Wunde, die ich dir zugefügt hab'
Trag' auch ich eine Narbe davon!
Es ist wohl ein unsel'ges Gesetz, das uns lenkt
Das da will, dass man grad', wen man am meisten liebt
So unbedacht demütigt und grundlos kränkt –
Dafür um so wen'ger nachsieht und vergibt!
Doch für jedes Unrecht, das ich dir angetan hab'
Hab' ich selber gelitten, Stück für Stück
Und von jeder Wunde, die ich dir zugefügt hab'
Bleibt auch mir eine Narbe zurück!
Es ist vieles gescheh'n, eh' ich zu lernen begann
Dass kein Ding für alle Zeit gewonnen ist –
Dass man nicht größ're Opfer erwarten kann
Als man von sich aus bereit zu bringen ist!
Wenn ich dir deine Liebe schlecht gedankt hab'
Wenn du kannst, verzeihe es mir jetzt
Denn von jeder Wunde, die ich dir zugefügt hab'
Bleibt auch mir eine Narbe zuletzt!