Reinhard Mey
Charlotte
Ich denk' nach all den Jahren
Schreib' ich Ihnen doch einmal
Der Abstand lässt mich vieles klarer sehen
Und mich Ihnen offenbaren
Die Sie überm düst'ren Tal
Meiner freudlosen Schulzeit als die einzige Sonne steh'n
Sie schleusten mich mit Dreistigkeit
– Und listenreich dazu –
Durch Prüfungen, Versetzungen, Komplotte!
Verzeih'n Sie, doch aus Dankbarkeit
Erlaub' ich mir das "Du" –
Ich grüße dich hochachtungsvoll, Charlotte!
Ich grüße dich hochachtungsvoll, Charlotte!

Um mein kleines Glück bestohlen
Hab' ich mich doch um Sympathie
Um Achtung meiner Lehrer abgestrampelt
Aber mit den Nagelsohlen
Der Pädagogik haben sie
Auf meiner Kinderseele rumgetrampelt
Und die kleine Persönlichkeit
Hatten Sie in kurzer Frist
So lebensfroh wie eine tote Motte
Und wenn sie an der Grausamkeit
Nicht ganz zerbrochen ist –
Dann ist das allein dein Verdienst, Charlotte!
Dann ist das allein dein Verdienst, Charlotte!
Ich wusch Dr. Lenz den Wagen
Hab' Frau Drews Fahrrad geputzt
Freiwillig den Tafeldienst übernommen
Hab' das Klassenbuch getragen –
Es hat alles nichts genutzt
Ich bin nie von der Eselsbank weggekommen
Und all' meine Lehrer fanden
Als Schulabgangsprüfung war
Dass mein Bildungsstand jeder Beschreibung spotte
"Und ich sag', er hat bestanden!"
Herrschte eine Stimme, "Klar?" –
Und dir widersprach man nun mal nicht, Charlotte!
Dir widersprach man nun mal nicht, Charlotte!

Dass das Bäumchen grad' zu stehen
Und Baum zu werden begann
Von den Steißtrommlerseelen unbezwungen
Dass ich heute aufrecht gehen
Und selbst zurücklächeln kann
Trotz der Bosheiten und Erniedrigungen
Das dank' ich dir, und das zu sagen
Such' ich lang' schon, doch erst nun
Wo ich die Schulzeit endgültig einmotte
Will ich es noch einmal wagen
Und mit diesen Zeilen tun! –
Ich denk an dich voll Zärtlichkeit, Charlotte!
Ich denk an dich voll Zärtlichkeit, Charlotte!