Reinhard Mey
Erbarme dich
Die Räder rumpeln den schlaglochzerfurchten Weg entlang
Die Zugmaschine ächzt und dröhnt im zweiten, dritten Gang
Der Hänger folgt schlingernd den Schlangenlinien
Zwei Dutzend Pferde sind die Ladung, Schlachtvieh ist die Fracht
Vier Nächte und vier Tage und vielleicht noch eine Nacht
Von Litauen bis hinunter nach Sardinien
Dreitausend Kilometer liegen vor dem Elendstreck
Durch Kälte, Angst und Hitze auf dem zug‘gen Ladedeck
Mit groben Seilen lieblos festgebunden
Dreitausend Kilometer eingepfercht und festgezurrt
Bei jeder Kurve schmerzt der rauhe Strick, der harte Gurt
Scheuert bei jedem Rucken in den Wunden
Erbarme dich
Erbarme dich!
Erbarme dich der Kreatur
Sieh hin und sag nicht, es ist nur
Vieh!
Sieh hin und erbarme dich!

Sie leiden stumm, fast zwanzig Stunden geht die Reise schon
Die erste Rast in Zebrzydowice, der Zollstation
Ein stumpfer Tierarzt stempelt die Papiere
Würdigt die Pferde keines Blickes, nach drei Stunden nur
Treibt man sie wieder auf den Wagen, beginnt die Tortur
Von neuem für die längst erschöpften Tiere
Mit Schlägen und mit Tritten die Laderampe hinauf
Und strauchelt eines, stürzt eines und bricht eines den Lauf
Dann stoßen sie es mit Elektrostäben
Wieder und wieder auf, auch wenn‘s wieder und wieder fällt
Nur für ein Tier, das überlebt, gibt es am Ende Geld
Und nur ein Tier, das steht kann überleben
Erbarme dich...

Und weiter, immer weiter ohne Rast, es drängt die Zeit
Die Tiere längst zu Tod erschöpft, der Leidensweg noch weit
Die Fracht verletzt, gemartert und geschunden
Beim Tanken noch ein Eimer Wasser, die letzte Ration
Der letzte Schlagbaum vor dem Schlachthof, die letzte Station
Und rohe Knüppel knall‘n in offne Wunden
Eine Betonwanne, ein Bolzenschuß, achtlos gesetzt
Ein wildes Aufbäumen im Todeskampf und ganz zuletzt
Dringt aus den Kehlen eine Todesklage
Ein Laut, so schaurig, der schon nicht mehr von dieser Welt ist
In einem Todesschrei, den du dein Lebtag nicht vergißt
Endet in Cagliari alle Plage

Erbarme dich...