Reinhard Mey
Jahr für Jahr
Sie hat die Tassen fortgestellt
Die Andern sind längst auf dem Feld
Wie immer, seit dem frühen Morgen
Die Schwester im Motorenwerk
Der Bruder arbeitet im Berg
Sie hat für Haus und Hof zu sorgen –
Großvater sitzt am Fenster, stumm
Die Kinder balgen sich herum
Und krabbeln zwischen ihren Füßen
Der Postbote kommt. Ja, es sei
Eine Karte für sie dabei
Aus Malaga, mit schönen Urlaubsgrüßen
Sie bringt das Essen auf den Herd
Sie hat die Stube ausgekehrt
Und dann im Stall das Vieh gefüttert
Wäsche gemangelt und gelegt
Den Alten wie ein Kind gepflegt
Und nichts, gar nichts, das sie erschüttert –
Alles kehrt heim bei Dunkelheit
Sie hat das Abendbrot bereit
Es ist ein langer Tag gewesen
Sie nimmt sich eine Handarbeit
Und vielleicht noch ein wenig Zeit
Im Katalog vom Großversand zu lesen
So wird es gehen Jahr für Jahr
Heute ist so, wie gestern war
Und morgen wird so sein, wie heute
Und dennoch gab es keinen Tag
Wenn sie müd' in den Kissen lag
Wo sie sich nicht auf Morgen freute –
So wird es geh'n, tagein tagaus
Der Hof, die Kinder und das Haus
Und Freuden und Mühseligkeiten
Ohne einmal ganz frei zu sein
Als einz'ge Abwechslung allein
Das Wechselspiel der Jahreszeiten