Reinhard Mey
Das Etikett
Also ehrlich, meine Freude kann nicht größer sein:
Dr. Prillwitz lädt mich zu seinem Geburtstag ein
Nun, ich kenn' den exquisiten Geschmack dieses Mannes
Und so kauf' ich ihm 'ne Platte von meinem Freund Hannes
Aber wie ich sie so schön in Geschenkpapier packe
Da seh' ich grade noch, es klebt direkt auf Hannes' Backe
Unübersehbar und klebrig und weiß
Ein dickes Etikett und darauf steht der Preis!
Ich versuch' erst mal im Guten, es abzuzieh'n
Dann mit Nagellackentferner, dann mit Feuerzeugbenzin
Und ich rubbel mit dem Finger, das geht auch nicht besser
Ich nehm' 'nen nassen Lappen und das Schweizermesser
Das Etikett hält stand, aber das Foto ist kaputt
Die Lieder sind immer noch schön, nur die Hülle ist im Dutt!
Es lastet ein Fluch auf dem Etikett
Im Jackett, am Kotelett
Auf dem Kopf hinterm Brett
Am Brikett, am Korsett
Jedem Ding von A bis Z
Klebt es dick und fett:
Das Etikett!
Der Pullover ist echt kusch'lig und das Teil hat wirklich Stil
Nur lümmelt sich über die ganze Brust eine Art von Reptil
Also erstens war das Teil vielleicht schon 'ne Spur überteuert
Und jetzt lauf' ich noch als Werbung rum? Ich bin doch nicht bescheuert!
Und nichts find' ich übler – nur mal nebenbei gesagt –
Als'n Promi, der für jede Scheiße Werbung macht!
Ich hol' den Nähkasten, Gabel, Messer, Licht und Schere
Wär' doch gelacht, wenn das Reptil von da nicht abzukriegen wäre!
Schneid' den Kettfaden durch und den Schußfaden auf
Den Schwanz hab' ich gleich ab, die Maschen nehmen ihren Lauf
Und jetzt, wo ich ganz vorsichtig das Maul anhebe
Geh' ich mit der Schere vorsichtig ganz nah ans Gewebe
Ein kräft'ger Ruck am Faden und ab ist der Lurch,Und durch das Loch über die Brust kuckt jetzt mein Leibchen durch
Es lastet ein Fluch auf dem Etikett
Im Jackett, am Kotelett
Auf dem Kopf hinterm Brett
Am Brikett, am Korsett
Jedem Ding von A bis Z
Klebt es dick und fett:
Das Etikett!
Schon beim Frühstück vor den Kalorien auf der Flucht
Nehm' ich den Müslijoghurt mit der Bio-Dreikorn-Frucht
Dem Verfalldatum gilt meine erste Überlegung
Auf dem Becherboden steht es: Siehe Deckelprägung!
Doch genau darüber klebt, wo es nun gar nicht hingehört
Ein dreiteiliges Schild, das sehr beim Datumlesen stört
Mit dem Fingernagel stech' ich, während ich am ersten polke
Durch den Deckel und gerate mit dem Finger in die Molke
Beim zweiten muß ich fester drücken, weil er etwas fester sitzt
Ich rutsche ab, der Becher platzt, der ganze Inhalt spritzt
In Aug' und Ohr, auf Hemd und Tisch, auf Nase, Bart und Brille
Die Kinder glucksen glücklich in die plötzliche Stille
Und dann bricht es triumphierend heraus aus den drei'n:
"Also ehrlich, Papa, du ißt wie ein Schwein!"
Es lastet ein Fluch auf dem Etikett
Im Jackett, am Kotelett
Auf dem Kopf hinterm Brett
Am Brikett, am Korsett
Jedem Ding von A bis Z
Klebt es dick und fett:
Das Etikett!
Meine Frau ist schön und weil ich sie gewaltig mag
Verführe ich sie gern schon mal am hellichten Tag
Ich lock' sie auf das Kanapee und ich flüster' und ich tuschel
Ich rischel und ich raschel und kuschel und wuschel
Aber plötzlich halt' ich inne und ich sage: "Schatz
Was ist das, woran ich mich in deiner Bluse kratz'?"
Und ich stelle fest, es stört mich bei der Vorbereitung
Meines Tuns ein Etikett, das ist die Waschanleitung!
Ich reiß' dran, meine Frau sagt: "Du mußt wissen, was du willst
Und ist dir klar, daß du die ganze schöne Stimmung killst?
Und wenn du nicht bei der Sache bist, also ich kann mich zügeln!"
Da, jetzt hab' ich endlich ab: Nicht schleudern, nicht bügeln!
Hinterm Kanapee klingelt das Telefon
Und ein Kind kommt früher nach Haus': "Hallo, da bin ich schon!"
Es lastet ein Fluch auf dem Etikett
Im Jackett, am Kotelett
Auf dem Kopf hinterm Brett
Am Brikett, am Korsett
Jedem Ding von A bis Z
Klebt es dick und fett:
Das Etikett!

So geht das weiter, auch wir tragen alle unser Etikett
Mir hat man eins angeheftet, darauf steht: Der Kerl ist nett
– Also nicht so'n Etikett, wie ich's im Tatort-Krimi sehe
Mit 'ner dicken Strippe festgebunden an der großen Zehe. –
Also, sicher bin ich nett, aber auch fies und gemein!
Und wenn ich will, kann ich ein echter Kotzbrocken sein!
Ja, ich stänker', und ich mecker', und ich hau' voll auf die Kacke
Ich bin der Abschaum, das Letzte, 'ne schlimme Schweinebacke
Doch so'n Etikett sitzt fest, aber das Schöne daran
Ist, daß ich ungestraft und nett die Sau rauslassen kann
Es erlaubt auf Obrigkeit und Militär zu schimpfen
Ich kann das ganze Kabinett und den Kanzler verunglimpfen
Ich spucke Gift und Galle und Geifer, Spott und Hohn –
"Ach ja so'n netten Kerl, den wünscht man sich als Schwiegersohn!"

Es lastet ein Fluch auf dem Etikett
Im Jackett, am Kotelett
Auf dem Kopf hinterm Brett
Am Brikett, am Korsett
Jedem Ding von A bis Z
Klebt es dick und fett:
Das Etikett!