Reinhard Mey
Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit
Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit
Find' ich viele vergilbt in all' den Jahr'n
Und and're von fast unwirklicher Klarheit
Von Augenblicken, die mir wichtig war'n!
Von Großmutter, die beim Kartoffelschälen
Die Frühjahrssonne im Vorgarten nutzt –
Ich spiel' im Sand und höre sie erzählen
Und weiß, dass – wenn sie mich erwischt – sie mir die Nase putzt
Wie manches, dem wir kaum Beachtung schenken
Uns dennoch für ein ganzes Leben prägt
Und seinen bunten Stein, als ein Andenken
Ins Mosaik unserer Seele trägt!
Die Suchlisten an den Rot-Kreuz-Baracken –
Vater, der aus Gefangenschaft heimkehrt –
Der dürre, fremde Mann mit Stoppelbacken
Der weinend die Bahngleise überquert!
Onkel Heinz, der mich in der Dorfgaststätte
Heimlich an seinem Bier mittrinken lässt –
Ich zieh' auch mal an seiner Zigarette
Und Tante Ille denkt, ich sei derweil beim Kinderfest!
Wie manches, dem wir kaum Beachtung schenken
Uns dennoch für ein ganzes Leben prägt
Und seinen bunten Stein, als ein Andenken
Ins Mosaik unserer Seele trägt!
Die Dramen, morgens vor dem Kindergarten –
Verzweiflung, wenn Mutter gegangen ist –
Die Qual, einen Tag lang auf sie zu warten
Und immer Angst, dass sie mich hier vergisst!
Sonntage, wenn Verwandte uns besuchen
Wenn alles lacht und durcheinander spricht
Geschirr klirrt – draußen gibt's Kaffee und Kuchen –
Johannisbeer'n im Garten funkeln rot im Sonnenlicht
Wie manches, dem wir kaum Beachtung schenken
Uns dennoch für ein ganzes Leben prägt
Und seinen bunten Stein, als ein Andenken
Ins Mosaik unserer Seele trägt!